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Eckart Sackmann:
Comics im Mittelalter
Der Comic als literarisch-künstlerische Ausdrucksform hat eine über Jahrhunderte währende Geschichte. Der Sprechblasencomic des 20. Jahrhunderts ist nur Teil der Entwicklung; mit dem Entstehen von teilanimierten und auditiv angereicherten Webcomics muss diese uns geläufigste Art möglicherweise schon als Vergangenheit betrachtet werden. Greift man auf eine möglichst umfassende, knappe Definition wie
Der Comic ist eine Erzählung in wenigstens zwei (unbewegten) Bildern
zurück, finden sich frühe Spielarten der Form bereits im Alten Ägypten, etwa im Papyrus des Hunefer aus dem 13. Jh. v. Chr.
Augenblick! Wo sind denn hier die geforderten zwei Bilder? Nun, tatsächlich besteht dieser Auszug aus dem Totenbuch des Hunefer aus vier Bildern, von denen die drei unteren eine Geschichte erzählen, also ein Comic sind. Um präzise zu sein, ist dies sogar ein Sprechblasencomic, denn die Hieroglyphen über den Köpfen enthalten Dialogtexte (vgl. Ägyptologie-Forum).
Die drei nicht voneinander getrennten "Panels": Links führt Anubis Hunefer zur Waage, wo durch Wägen des Herzens über das verflossene Leben entschieden wird. Das zweite Panel zeigt diese Waage, darunter die Fresserin, rechts daneben Toth, der das Ergebnis aufzeichnet. Dieses scheint positiv ausgefallen zu sein, denn im rechten Panel bringt Horus Hunefer vor Osiris. Eine Besonderheit der Sprechblasen ist, dass die Leserichtung stets zum Mund des Sprechenden führt, also beliebig von links-rechts nach rechts-links wechseln kann.
Dieses früheste mir bekannte Beispiel eines Comic möge veranschaulichen, dass wir von den Anfangsstadien der Form nicht erwarten können, dass sie sich auf den ersten Blick als Bild-Erzählung, als Comic erschließen, wie wir ihn heute gewohnt sind.
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Papyrus des Hunefer (1300 v. Chr.)
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Um die Darstellung aus dem Totenbuch des Hunefer einzuordnen, möchte ich eine Klassifizierung aufgreifen, mit der der Kunsthistoriker Franz Wickhoff sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Illustrationen der sogenannten "Wiener Genesis" angenähert hat (Franz Wickhoff: Römische Kunst (Die Wiener Genesis). In: Max Dvorak (Hg.): Die Schriften Franz Wickhoffs, Bd. 3. Berlin 1912). Wickhoff spricht von drei Stilen: dem kontinuierenden, dem komplettierenden und dem distinguierenden Stil. Dem lehne ich mich im folgenden an.
Ich benenne als die drei Prinzipien des Comic: das kontinuierende, das integrierende und das separierende.
Kontinuierend
Kontinuierend heißt, die Szenen der sequentiellen Darstellung werden streifenförmig und ohne trennende Elemente aneinandergereiht. Solcherart ist das Beispiel aus dem Totenbuch des Hunefer. Andere Beispiele finden sich auf einem phönizischer Silberteller, der Trajanssäule, der Josua-Rolle, den Emakimono und dem Teppich von Bayeux.
Phönizischer Silberteller mit Jagdszene (7. Jh. v. Chr.). Die rund um den Teller laufende Darstellung beginnt beim Pfeil rechts oben.
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Trajanssäule, Rom (113). Bildstreifen 200 m lang, ca. 60-75 cm hoch
Josua-Rolle (byzantinisch, frühes 10. Jh.). 11 m lang, 45 cm hoch
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Teppich von Bayeux (England, Ende 11. Jh.). 68 m lang, ca, 50 cm breit
Shigisan Engi Emakimono (Japan, Ende 12. Jh.). 8,78 m lang, 31,7 cm hoch
Integrierend
Dem kontinuierenden ähnelt das integrierende Prinzip darin, dass es alle Szenen ohne Trennlinien auf einem Bildhintergrund vereint, allerdings nicht in Form eines fortlaufenden Streifens, sondern verteilt auf eine individuell gestaltete Fläche. Das integrierende Prinzip ist das des Simultanbildes, der simultanen und (im Unterschied zum kontinuierenden Prinzip) simultan erfassbaren Darstellung zeitlich versetzter, erzählerisch zusammenhängender Szenen. Im Folgenden als Beispiele ein Blatt aus der "Wiener Genesis", der "Kalvarienberg" der Familie Wasservass, Masaccios "Tributzahlung" und Memlings "Turiner Passion". Die Form des Simultanbildes erlebte während des 15. Jahrhunderts in Flandern, Deutschland, aber auch in in Italien eine Mode.
Kalvarienberg der Familie Wasservass (Köln, ca. 1425)
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Wiener Genesis: Jakobs Kampf mit dem Engel (byzant., 6. Jh.)
Masaccio: Die Tributzahlung (Florenz, ca. 1425)
Hans Memling: Turiner Passion (Brügge, 1470)
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Separierend
Das separierende Prinzip mit der Unterteilung in voneinander abgegrenzte Panels ist das des modernen Comic. Hinleitend zur separierenden Darstellung ist die Unterteilung durch Applikationen der Architektur oder, wie das untenstehende Bild aus der sogenannten Granval-Bibel (westfrz., ca. 840) zeigt, durch Bäume:
Frühe Beispiele für das separierende Prinzip sind die Quedlinburger Itala, der Petrialtar von Meister Bertram, Schäufeleins "Christophorus" sowie Cranachs "Passion". Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass es die Panels nicht auf einer Seite vereint, sondern jedem Panel ein Blatt zugesteht - etwas, das wir in der Moderne etwa in dem Buch "Fliegenpapier" von Hans Hillmann finden.
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Oben: Meister Bertram: Hochaltar der Hamburger Petrikirche (1379-83)
Fragment der Quedlinburger Itala: Saul begegnet Samuel (römisch, 4. Jh.)
Oben: Hans Schäufelein: Christophorus-Legende (einer von zwei Bögen, ca. 1505)
Links: Lukas Cranach d. Ä.: Passion (8 von 14 Holzschnitten, 1509)
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